Ein weithin unbearbeitetes Feld der kirchen- und theologieg-schichtlichen Forschung, das gleichwohl ausgesprochen gegenwarts-relevant ist, wird im zweiten Beitrag dieses Hefts gewissermaßen in Pionierarbeit erschlossen. Dr. Tobias Graßmann ist Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und arbeitet derzeit an seiner Habilitationsschrift. Promoviert wurde er mit einer Neuinterpretation der lutherischen Bekenntnishermeneutik unter dem Titel »Richtschnur und Lebensmittel« (Göttingen 2022). In seinem Aufsatz »Gegen alle 'Verächter des weiblichen Geschlechts'« untersucht Graßmann nun wie Autoren des spätreformatorischen Luthertums eine theologisch motivierte gendertheoretische Perspektive in ihren Schriften einnehmen. Was zunächst kurios erscheinen mag, erweist sich als theologisch ausgesprochen erhellend und höchst differenziert. Graßmann gelingt es nachzuweisen, dass Autoren des konfessionellen Luthertums wie Martin Luther, Johann Mathesius, Andreas Musculus oder Cyriacus Spangenberg von ihrer Glaubensüberzeugung her konstruktiv die Frage nach Geschlechterrollen und Geschlechterverhältnissen bearbeitet haben. Die behutsam differenzierende Herangehensweise Graßmanns eröffnet ein aspektreiches Feld von geschlechtsspezifischer Frömmigkeit bis zu einer Theologie der Geschlechter im Luthertum der frühen Neuzeit. Erkennbar wird, wie diese Theologen die Geschlechterfragen nicht vom Biologischen und vermeintlich Natürlichen, sondern von den biblischen Texten her in den Blick nehmen und von Genesis 1 und 2 her die gleiche Würde der Geschlechter und ihre wechselseitige Angewiesenheit hervorheben - und zwar gegen miso¬gyne philosophische und theologische Konzeptionen ihrer Zeit. Der Aufsatz verdeutlicht einmal mehr, wie erhellend Quellenlektüre - gerade auch der orthodoxen Väter - sein kann. (aus dem Editorial von Schriftleiter Christian Neddens)